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on May 1, 2014 at 6:40:46 pm
 

Mise à jour, le 1 mai 2014

 

 

Biographie

*Bibliographie

*Colloques

*Essais sur Thomas

*Inédits

*Livres

*Lectures de l'oeuvre

*Manifestations

*Membres

*Photos

*Témoignages

 

Dans la mesure où de nombreux articles ont été publiés à l'occasion de la publication de la traduction allemande du Promontoire, effectuée en 1962 par Paul Celan, nous donnons à lire les articles qui sont consacrés à ce volume. Nous signalons les liens qui renvoient à chaque article, ceux-ci sont lisibles après ces références internet. Nous remercions les auteurs et journaux de nous permettent cet archivage. Des traductions en langue française de ces articles sont bienvenues.

 

Dans cette page, nous signalons aussi plus  généralement les articles de langue allemande.

 

Mise à jour, 1 mai 2014.

 

 

Sifrid Kupsch, nous signale son étude,  mentionnée en son temps dans la rubrique Actualités, mais non pas ici., qu'elle soit remerciée de ce rappel :

 

Der Übersetzer als verhinderter Schriftsteller. Henri Thomas‘ La Nuit de Londres und Das Vorgebirge“.  In: Mayer, Felix/ Nord, Britta (HG.): Aus Tradition in die Zukunft. Perspektiven der Translationswissenschaft. Festschrift für Christiane Nord. Berlin: Frank & Timme, 131-141.

 

Espérons une traduction de ce travail. Un résumé va  en attendant être bientôt lisible sur cette page.

 

Mise à jour, octobre 2008

 

Le 14 septembre 2008, nous signalions dans la rubrique Actualités, cette information ):

 

Léopold Federmair, l'un des deux traducteurs en langue allemande de Thomas ( voir Rubrique Bibliographie ) nous signale dans le célèbre "Frankfurter Allgemeine Zeitung" , le 12.08.2008, Nr. 187 / Page 38, un article de Joseph Hanimann, sur la traduction du Promontoire effectuée par Celan :

 

http://www.faz.net/s/Rub79A33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc~EB4D6E1D1C3B144B292AC23A316F6BCBB~ATpl~Ecommon~Scontent.html

 

( 13 septembre 2008, nous signalions dans la rubrique Actualités, cette information ):

 

Thomas Laux, l'un des deux traducteurs en langue allemande de HT ( voir rubrique Bibliographie ) nous signale son article de présentation générale de la vie et l'oeuvre de Henri Thomas:

 

"Funkelnder Solitär. Der französische Schriftsteller Henri Thomas (1912-1993) und sein Werk", in: NEUE ZÜRCHER ZEITUNG vom 13./14.9.2008.

 

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/funkelnder_solitaer_1.830336.html

 

Il nous recommande aussi l'article de Angelika Overath concernant la traduction du Promontoire effectuée par Paul Celan. Ce compte rendu est intitulé:

 

"Gezeitenwechsel der Wirklichkeit: Paul Celans Übertragung von Henri Thomas' 'Das Vorgebirge' " in: NEUE ZÜRCHER ZEITUNG vom 13./14.9.2008.

 

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/gezeitenwechsel_der_wirklichkeit_1.830340.html

 

Souhaitons que nous puissions lire un jour ces articles, et d'autres évoqués en cette rubrique, en langue française. Avis aux traducteurs, lecteurs de ce site HT !

 

Le 6 août 2008, nous signalions dans la rubrique Actualités, cette information :

 

 

Deux articles, en langue allemande, rendent compte de la parution de la traduction du Promontoire, effectuée par Paul Celan, en 1962, dont nous avons signalé la parution récente ( voir ci-dessous, 15 mai 2008).

1)L'un est signé Léopold Federmair

 

"Das Vorgebirge" dans "Die Zeit" :

http://www.zeit.de/2008/30/L-Thomas-NL

 

2)L'autre, signé de Thomas Laux, dans le FRANKFURTER RUNDSCHAU, 15 juillet 2008, intitulé :

" Das Rätsel von Korsika. In der Übersetzung Celans : 'Das Vorgebirge' von Henri Thomas"

 

http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1367425

 

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ARTICLES CITES :

 

Im Banne der Totenkanne

 

 

Joseph Hanimann

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.08.2008, Nr. 187 / Seite 38

 

 

12. August 2008

 

Es gibt zwei gute Gründe, dieses Buch zu lesen: den Autor und den Übersetzer. Die beiden Gründe haben nichts miteinander zu tun. Damit soll nicht gesagt sein, es sei eine schlechte Übersetzung. Autoren sind aber eigenwillige Übersetzer. Henri Thomas selbst ist ein Beispiel dafür. Neben Goethes "Torquato Tasso" für die Pléiade-Klassikerausgabe 1941 hat er Brentano, Stifter, Achim von Arnim, Hofmannsthal, Kleist, aber auch die Shakespeare-Sonette ins Französische übersetzt und vor allem mit seinen insgesamt sieben Jünger-Übertragungen wesentlich das Bild Ernst Jüngers in Frankreich mitgeprägt. Dass der 1912 in den Vogesen geborene Thomas auch Romanautor, Dichter, Literaturkritiker und Gallimard-Lektor für deutsche Literatur war, ist hierzulande wenig bekannt. Die Publikationen auf Deutsch blieben spärlich.

 

Von diesem im Original 1961 erschienenen Roman aber liegen gleich zwei Übersetzungen vor. Das kam so: Henri Thomas hatte in jenem Jahr über die Vermittlung Ciorans in Paris den Dichter Paul Celan kennengelernt. Dieser entschloss sich spontan, den mit dem Fémina-Preis ausgezeichneten Roman "Le Promontoire" des Kollegen und Gallimard-Lektors ins Deutsche zu übertragen. Als drei Viertel der Arbeit schon getan waren, kam es mit dem Hanser Verlag zum Zerwürfnis. Celan verweigerte dem Verlag prinzipiell jedes Recht auf Eingriffe und zog sich zurück. Hanser ließ das Buch 1963 in einer Übersetzung Elmar Tophovens als "Das Kap" erscheinen. Celans unvollendete Version nun zu ergänzen und ebenfalls vorzulegen ist eine glückliche Initiative des Suhrkamp Verlags und der Herausgeberin Barbara Wiedemann.

 

Man kann die wie oft bei Thomas autobiographisch gefärbte Romanhandlung resümieren, nur führt das nicht sehr weit: Ein Übersetzer und Tagebuchschreiber vertrödelt einen harten Winter in der Einsamkeit eines korsischen Dorfs und gerät in den Strudel des plötzlichen Tods seiner ehemaligen Wirtin, deren junge erblindende Schwester vor fünf Jahren - war es Selbstmord, Selbstmord mit Beihilfe oder Mord? - durch einen Revolverschuss umgekommen ist, genau an der Stelle des Strandes, wo später auch die Frau des namenlosen Ich-Erzählers ertrinkt. So zusammengefasst, klingt es wie der Buchentwurf eines B-Krimiautors. Es fehlt im Folgenden die "Totenkanne", jene schwere, randvolle, heiße Kaffeekanne, die bei jedem Todesfall vom Dorfcafé aus für die Totenwache ins entsprechende Haus getragen wird und deren Zustellung spontan der Erzähler übernimmt. Zwar trägt er auch diverse andere Dinge durchs Dorf wie Kohlesäcke und Holzscheite, doch ändert dieses Totenkanne-Tragen offenbar viel in seinem Leben, wirft ihn ganz aus der Bahn, hätte er sich denn je in einer solchen befunden.

 

 

 

Das Vorgebirge von Thomas, Henri

 

Das Erzählmuster von Henri Thomas ist, stilistisch zwar sachlich scharf, so lose angelegt, dass bei jeder Satzwendung die voraus- und zurückspringenden Begleithandlungszotteln schlenkern und ein durchgehendes Flimmern von Fremdartigkeit aufkommen lassen. Wenn der Erzähler, schon achseltief in der Erde steckend, das Grab für die Wirtin schaufelt, während die umstehenden Dorfmänner oben am Grubenrand lachen, oder wenn er in seinem wachsenden Wahn überzeugt ist, man habe ihm seine Übersetzungsliste für die pharmazeutischen Produkte entwendet, verbiegt der Situationsrealismus sich unmerklich zur Absonderlichkeit mit Anklängen an Kafka. Wenn das im eisigen Winter nur oberflächlich in den Boden gesteckte Kreuz auf dem Grab der mutmaßlichen Selbstmörderin im Frühling bedrohlich sich zu neigen beginnt, grüßt die schräge Jenseitsahnung eines Jean Giono. Und wenn die Wade eines Fischers in der Märzsonne nach dem Winter plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ist das besser als Nouveau Roman, der in der Nebenfigur eines Monsieur Bob-Rillet auch beiläufig einen Klaps abbekommt.

 

Paul Celan hat das alles atmosphärisch, mehr aus dem inneren Klang heraus als aufs originalgetreue Detail hin übersetzt. Der ins leicht Entrückte angehobene Ton verstärkt den Eindruck von Fremdartigkeit. Dass die Ahnung, in diesem Dorf lange hängenzubleiben, den Erzähler in keine Verzweiflung treibt, sondern in "eine einmalige Seinsweise, und mir einerlei!", untersagt schon mit seiner Lautwiederholung dem Leser jeden Vorbehalt des Zweifels. Der auf Französisch umgestellte Satzbau der Konversation - "Von dem Holz in den Galerien - finden Sie eigentlich viel davon?" - klingt auch auf Deutsch plötzlich ganz natürlich. Dass die Dorfleute aber mit dem Satz "Trachten Sie dazusein um zwei Uhr" den Erzähler zum Grabschaufeln bestellen, führt etwas weit in die Überhöhung. Am besten gelingt diese in der beiläufigen Zustandsbeschreibung, wenn etwa der Erzähler in der Küche der verstorbenen Wirtin die Augen von deren blinder Schwester betrachtet, "so schön wie gemalte Augen - und tote Augen. Augen, das sind sie ja auch." Dieses Schwanken der Betonung zwischen "sind sie" und "auch" lässt die ganze schon nicht mehr traurige Unschlüssigkeit des selbstvergessenen korsischen Bergdorfbewohners am Meer in sich nachklingen. Denn dem Vorgebirge folgt auch bei Celan nicht das geringste Gebirgsecho.

 

 

JOSEPH HANIMANN

 

Henri Thomas: "Das Vorgebirge". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Paul Celan. Aus dem Nachlass herausgegeben, ergänzt und mit einem Nachwort versehen von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 128 S., geb., 12,80 Euro.

 

 

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Funkelnder Solitär

 

Der französische Schriftsteller Henri Thomas (1912–1993) und sein Werk

 

 

Thomas Laux

 

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG vom 13./14.9.2008.

 

 

Fenster schliessen Trotz illustren Fürsprechern blieb der Schriftsteller Henri Thomas immer eine Art Geheimtipp. Sein Werk zeichnet sich aus durch verrätselte Plots und eine poetisch verdichtete Sprache.

 

 

 

«Vous ne m'aurez pas» – zu Deutsch: «Ihr kriegt mich nicht» –, so titelte 1991 die französische Literaturzeitschrift «Sud» eine Sonderausgabe zu Henri Thomas, einem Autor, der über Jahrzehnte nahezu ausschliesslich einem Kreis von Kennern vorbehalten war. Der da seinen Lesern und vor allem seinen Kritikern eine Nase drehte, war zeitlebens kaum einem breiteren Publikum bekannt gewesen. Inzwischen aber ist seine literarische Bedeutung auch international bestätigt. Insbesondere literaturwissenschaftliche Forschungen belegen dies in zunehmender Weise, mittlerweile gibt es auch eine (im Schwerpunkt französische) Website, auf der jeder Interessierte sich unter http://henrithomas.pbwiki.com/ über den neuesten Stand der Forschung informieren kann.

 

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Dabei hat es an illustren Fürsprechern nie gefehlt – viel Lob und Anerkennung gab es für Thomas schon früh von sogenannten «Kollegen» wie Maurice Blanchot, Philippe Jaccottet oder Yves Bonnefoy, und stets war da auch die Absicht erkennbar, das Mysterium, das sein Œuvre zu umgeben schien, ein Stück weit zu lüften. Ein bisschen zu häufig und auch zu unisono wurde nämlich in den französischen Besprechungen, bei jedem neuen Roman des Franzosen, jahrein, jahraus dasselbe Mantra heruntergeleiert: Thomas sei diskret und öffentlichkeitsscheu, er entziehe sich konsequent allen belletristischen Regeln, er denke gar nicht daran, mit seiner Literatur einem wie auch immer gearteten Lesepublikum entgegenzukommen usw. Daran sollten auch eine Reihe im Grunde publikumswirksamer Preise – u. a. Prix Médicis, Prix Fémina – nicht viel ändern: Der 1912 in Anglemont in den Vogesen geborene und 1993 nach zahlreichen Wohnungswechseln in einem Pariser Seniorenheim verstorbene Henri Thomas kann womöglich als einer der konsequentesten Einzelgänger in der literarischen Landschaft Frankreichs angesehen werden.

 

Leerstellen

Dabei hätte es, um das aussergewöhnliche Spektrum seiner literarischen Aktivität zu beleuchten, schon zu Lebzeiten genügend Hinweise auf seine Bedeutung jenseits eines trendigen Buchmarktes gegeben, angefangen bei der fast schwindelerregenden Zahl seiner Buchveröffentlichungen – überwiegend bei Gallimard –, mit einer stupenden Anzahl von Romanen (16, nach anderer Lesart: 21), Erzähl- (7), Essay- (6) oder Gedichtbänden (10), wobei postum noch einiges hinzukam, Briefe sowie Autobiografisches. Doch damit nicht genug. Dass der Mann in besonderer Weise mit Sprache umzugehen verstand, unterstreicht sowohl die Menge als auch die Provenienz seiner Übersetzungen, wobei Übertragungen aus dem Deutschen (Stifter, Goethe, Kleist, Brentano, Ernst Jünger), aus dem Englischen bzw. Amerikanischen (Shakespeare, Melville, Faulkner) und dem Russischen (Puschkin, Tolstoi) besonders hervorstechen. Was den überraschenden Publikumserfolg von Jüngers «Marmorklippen» in Frankreich angeht, so wurde dabei gleich direkt auf den Übersetzer Henri Thomas verwiesen – und zwar mehr schon in Form einer Schuldzuweisung. Die Publizistin und Übersetzerin Nicole Casanova spitzte es exakt darauf zu, als sie mit Hinblick auf Jüngers Erfolg in Frankreich meinte: «C'est la faute d'Henri Thomas.»

 

Thomas' Bücher taugen auch auf den zweiten Blick nicht zum «easy reading», was aber weniger einer komplizierten Verschachtelung von Plot und Charakteren geschuldet ist als der oftmals poetischen Unterfütterung seiner Prosa bei einem insgesamt zwar singulären, letztlich aber eher durch sprachliche Einfachheit geprägten Schreibstil. Alle semantische Gewissheit gerät freilich ordentlich ins Wanken, wenn über die Länge seiner Geschichten immer wieder ein vormals verdunkelter poetischer oder philosophischer Subtext mit aufscheint und der Einfachheit oder Stringenz der Schilderung von innen her entgegenwirkt. Philippe Jaccottet sagte einmal, Thomas' hohe Kunst bestehe darin, seine Leser zu verunsichern, womit er nolens volens auch das Problem benannte, das ihm, Thomas, eben nie eine grosse Leserschaft beschert hatte.

 

Geheimnisse und Rätsel

Anderseits taugt Jaccottets ambivalent klingendes Kompliment dazu, ein wichtiges Merkmal dieser eigenwilligen Ecriture hervorzuheben: Thomas gelingt es immer wieder, ein spezifisch neues Licht auf alltägliche Dinge zu lenken und unseren starren Gewohnheitsblick in origineller Weise zu verunklaren. Vieles in seinen Erzählungen ist eigentlich nur angedeutet; der Schleier des Geheimnisses wird nicht tatsächlich gelüftet, sondern allenfalls neu justiert; ein thematisiertes Rätsel bleibt erhalten, gibt sich vielleicht nur von einer anderen Seite zu erkennen. Der jetzt in Paul Celans Übersetzung vorliegende Roman «Das Vorgebirge» ist dafür ein gutes Beispiel.

 

Der dort im Hintergrund auftauchende Schriftsteller Gilbert Delorme formuliert es an einer Stelle geradezu beispielhaft: «Ein Geheimnis ist ans Licht gebracht, aber ein anderes ist an seine Stelle getreten.» Hier wird also gar nichts gelöst, es geht überhaupt nicht um Lösungen. Weit wichtiger ist Thomas die geschilderte Atmosphäre, für die gegebenenfalls auch die Chronologie der Erzählung vernachlässigt wird. Dabei kreisen seine Geschichten ähnlich wie in einem spannenden Kriminalroman gerne hintergründig um tiefsinnige Motive des Handelns, um Identitätssuche oder seelische Abgründe, doch trotz allen genretypischen Ingredienzien kommt eben nie ein genuiner «roman policier» dabei heraus (wenn man von dem 1969 erschienenen Roman «La Rélique» absieht – aber selbst da, wo es um den Raub einer Reliquie geht, sieht vieles am Ende eher nach romaneskem Spiel und Ablenkungsmanöver aus).

 

Sinnfragen

Keiner der Romane von Thomas verzichtet auf ebenso sinnstiftende wie sinnsabotierende Leerstellen, in denen das, was Fakt, Wahrheit oder Wirklichkeit ist – oder dafür ausgegeben wird –, in einen prekären Moment der Unsicherheit übergeführt, darin gehalten und gleichzeitig codiert wird. Der Protagonist oder Erzähler – und erst recht der Leser – merkt es, wenn überhaupt, erst mit Verzögerung. Der Ich-Erzähler des «Vorgebirges» bestätigt es bezeichnenderweise einmal selbst: «Ich bin einer, dem etwas widerfährt, das er nicht begreift» – aber, natürlich, gerne begreifen würde. Wie muss man sich diese Hauptfiguren typologisch eigentlich vorstellen? Gibt es so etwas wie eine Entwicklung bei ihnen? Tun sie etwas Substanzielles, um von der Stelle zu kommen oder sogar: sich zu verändern? Nicht wirklich. Gleichwohl passiert etwas mit ihnen.

 

Oft, gerne schon zu Anfang der Geschichte, machen sie sich ziemlich auffällig aus dem Staub, folgen einem diffusen Fluchtimpuls, wie etwa Stéphane Chalier in «Le parjure» (1964), der sich gleich von Frankreich in die Vereinigten Staaten absetzt, dort allerdings wegen eines Meineids (parjure) und als jäh inkriminierter «Bigamist» in den Blick der Strafbehörden gerät. Doch ist es egal, wohin sie gehen, die thomasschen Helden sind niemals woanders als bei sich selbst. Das äusserliche Fliehen ist im Wesentlichen nur Dekor und dient der erzählerischen Dramaturgie. Grundsätzlich sind Thomas' Protagonisten Getriebene, Suchende, im Speziellen auch einmal als Deserteure gekennzeichnet (ein anderer, früher Titel dieses Autors lautet «Les déserteurs»), immerzu sind sie unruhig, streunen umher – vorzugsweise nachts –; sie wirken seelisch beschädigt. Wie die Schnecke ihr Haus tragen sie eine Last mit sich herum, man weiss nur nicht genau, was es ist.

 

Konsequent halluzinatorisch hat Thomas dies in seinem Roman «La nuit de Londres» (1956) geschildert. Im Zentrum des Romans erscheint ein vereinsamt wirkender Mann, Paul Souvrault, der durchs nächtliche London streift und, sich ständig in einer Zone von Realität und Traum bewegend, einige zum Teil bizarre, nicht schlimme, aber für Aussenstehende schwer einzuschätzende Erlebnisse hat. Irgendetwas zieht diesen Steppenwolf heraus aus seiner inneren Lähmung, da ist etwas Unaufgelöstes, Mysteriöses, womöglich eine Krise, die in der Vergangenheit stattgefunden hat und die sich nun bemerkbar macht wie eine jäh juckende Narbe. Schliesslich können solche Figuren auch tragisch bzw. tödlich enden, so auch hier: Souvrault, dessen Leben oder Schicksal unterm Strich nur ansatzweise aufgehellt wird, stirbt infolge eines Autounfalls. Für andere Protagonisten kommt auch der Selbstmord durchaus in Frage. Nie bedarf es eines spektakulären Showdowns. Im vorliegenden Falle schaltet sich unversehens eine bis dahin unbekannte Erzählerstimme ein (in «Le parjure» geschieht es ähnlich, allerdings schon recht früh), um sich als «témoin», als Zeuge, anzudienen, die fehlenden Informationen zu liefern und den ganzen Sachverhalt aus seiner Sicht – na ja – «aufzuklären».

 

Wer sich als Leser auf das Werk von Henri Thomas einlässt, hat es jedenfalls mit einer in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Lektüre zu tun. Der Franzose versteht die seltene Kunst der hintergründigen, narrativen Dezentrierung; geradezu erfrischend wirkt sich dies für jeden neugierig disponierten Leser aus, denn während der Lektüre will sich überhaupt kein Gefühl von «déjà-lu» einstellen. Selbst die banalsten Dinge erscheinen plötzlich in einem neuen Licht – und bleiben einem so, auf magische Weise verändert, in Erinnerung.

 

 

Vom «Vorgebirge» abgesehen können alle vier zuvor ins Deutsche übersetzten Bücher Henri Thomas' (zwei Romane – darunter die erste Fassung des «Vorgebirges» mit dem Titel «Das Kap» –, eine Novelle sowie ein Band mit Erzählungen) zurzeit nur antiquarisch erworben werden. Einzelheiten dazu unter der angegebenen Website, Rubrik «Bibliographie».

 

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Gezeitenwechsel der Wirklichkeit

 

 

Angelika Overath

 

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG vom 13./14.9.2008.

 

 

«Das Vorgebirge» von Henri Thomas ist eine der ungewöhnlichsten und aufregendsten Neuerscheinungen. Die Celan-Editorin Barbara Wiedemann hat den 1961 in Frankreich publizierten (und mit dem Prix Fémina ausgezeichneten) kleinen Roman in Paul Celans Nachlass aufgespürt: zu zwei Dritteln übersetzt. Sie hat das Fragment behutsam bearbeitet und, sich an den Celanschen Übersetzungsstil anschmiegend, um das fehlende Drittel ergänzt. (Wer nicht glaubt, dass das gelingen konnte, versuche – ohne in den Anmerkungen nachzusehen – den Wechsel der Stimme auszumachen!) Obwohl sich der Hanser-Verlag immer wieder um das Werk von Henri Thomas bemüht hat, ist dieser Autor in Deutschland so gut wie unbekannt geblieben. Vielleicht ist die Zeit endlich reif für einen Durchbruch.

 

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Vom Übersetzten

Lormia, ein Ferienort an den Klippen Korsikas. Eingeschlossen im Schnee eines extremen Winters, haust der Protagonist, ein Übersetzer, in leiser Verelendung am Ende des Dorfs und soll einen Katalog für Pharmaprodukte aus dem Englischen ins Französische übertragen, eine stumpfsinnige Brotarbeit. Seine Frau Solange ist mit der kleinen Tochter vor der Kälte geflohen und zu den Eltern gereist. Auf sich zurückgeworfen, gerät der Übersetzer in den Sog einer anderen Wahrnehmung, eines anderen Schreibens. Am Strand findet er Holz für sein Feuer, aber auch den Satz «Das Meer ist schwarz». Von nun an werden die Wörter zum Brennmaterial seiner Existenz. Erzählt wird die Genese eines Schriftstellers, es ist die Geschichte eines Ausgesetztseins an jenem Kap, wo sich Wahrnehmung und Wörter brechen. Im unwirtlichen Vorgebirge ist der Übersetzer zu einer «Amphibie» geworden, zu einem Wesen zwischen den Elementen einer terrestrischen Sprache und dem Gezeitenwechsel der Wirklichkeit.

 

Und die Bewohner und Besucher von Lormia, der «Apotheker aus Antwerpen», die Patronne Justine und ihre Schwestern, der priapische Sarde, der voyeuristische Pope, der Fischer von Elbo, der Dichter Delorme (dieser «Literatur-Hochstapler», der selbstgewiss nur steif nacheinander erzählt, weil er nicht weiss, dass sich die Zukunft immer schon in der Vergangenheit spiegelt) werden zu Figuren eines kleinen Welttheaters, eines korsischen Totentanzes. Der Tod ist allgegenwärtig. Er klopft mit den Rüsselkäfern, diesen «Toten-Uhren», die im Gebälk der Häuser nagen; er glüht in der Kaffeekanne für die Totenwache, die ein Knabe über die Strasse trägt; und wärmt den Übersetzer, der sie entgegennimmt; er lodert im Feuer wie im Schreiben, das sich verzehrt.

 

Der Tod tränkt die Schönheit des «Bades der Diana». Warum ist die 18-jährige Schwester von Justine gestorben? Es war nicht Mord, nicht Selbsttötung, kein Unfall. Das Geheimnis durchzieht den Roman bis zum Ende und war doch schon am Anfang offenbar. Für den, der sähe, der die Zeichen deuten könnte. Dem eine Fotografie aufgefallen wäre mit Dianas Augen hinter dicken Brillengläsern. (Diana wollte lieber sterben als völlig erblinden. Sie führt die Hand des Apothekers, der ihr die Hand führt, die die Pistole hält. Der Tod ist die Geste einer Unio am Strand.)

 

Auch Schreiben ist ein Vorgang am Rande der Blindheit; wer schreibt, dem kommen die Wörter entgegen «wie der Baum, den ich sehe, wie alles, was mir jemals zustiess». Der Übersetzer leidet an einer Überwachheit, am permanenten Schock eines schmerzhaften Aufwachens im Augenblick. Er ist nicht. Er ist nur die Korrespondenz all dessen, was in jedem Moment unsagbar zusammenschiesst. Er gehört nicht mehr zu jenen, die selbstverständlich einfach nur da sind. «Schau, (. . .) sie sehen uns nicht», sind die letzten Worte des Textes, mit denen der Protagonist in einer imaginativen Vorwegnahme seiner kleinen Tochter den Strand der Toten zeigt, mit den Lichtepiphanien und den ahnungslosen Touristen des Lebens.

 

Ertrinkende

Paul Celan und Henri Thomas haben sich im Februar 1961 kennengelernt; ohne einen Verlagsvertrag begann Celan in den Weihnachtsferien den neuesten Roman des um acht Jahre älteren Schriftstellerkollegen zu übersetzen. Er brach vor dem Ende, das in wenigen Tagen zu leisten gewesen wäre, ab. Celan muss in diesem Text mehr gesehen haben als die Arbeit eines anderen. Möglich, dass er in der lyrisch korrespondierenden Sprachwelt von Henri Thomas jenen einstigen «Meridian» (Celan in der Büchnerpreisrede von 1960) wiedererkannte, dessen Verlust auf einmal möglich schien wie ein Erblinden. Die Passage, in der Solange, die Frau des Übersetzers, ertrinkt, weil sie vielleicht ertrinken wollte, übersetzt Celan, der sich in der Seine das Leben nehmen wird, nicht.

 

 

Henri Thomas: Das Vorgebirge. Roman. Übertragung aus dem Französischen von Paul Celan. Aus dem Nachlass hrsg., ergänzt u. mit einem Nachwort versehen von Barbara Wiedemann. Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008. 128 S., Fr. 23.–.

 

 

 

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Ich schaufle und schaufle

 

 

Leopold Federmair

 

DIE ZEIT, 17.07.2008, Nr. 30

 

Schlagworte: Roman Belletristik Literatur

Französisch, existentialistisch und geheimnisvoll: Der Roman »Das Vorgebirge« von Henri Thomas, übersetzt von Paul Celan © Bibliothek Suhrkamp

 

Als Paul Celan im Februar 1961 den französischen Lyriker und Erzähler Henri Thomas kennenlernte, schienen beide auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn angelangt. Celan hatte den Büchner-Preis erhalten, Thomas den Prix Médicis für seinen Roman John Perkins und, Ende 1961, den Prix Fémina für Le promontoire, das Buch, dessen Übersetzung sich Celan im Dezember desselben Jahres vornahm. Andererseits waren und blieben beide, Celan wie Thomas, gefährdete Existenzen mit Sicherheitsabstand zum Literaturbetrieb, oft auf Ablehnung und Feindseligkeit stoßend oder diese provozierend. Henri Thomas veröffentlichte bei Gallimard, er hatte für diesen und andere bedeutende Verlage diverse Arbeiten gemacht, nicht zuletzt Übersetzungen: Ernst Jünger, Adalbert Stifter, Herman Melville, Puschkin. Mag sein, dass Celan sich von seiner Bekanntschaft mit Thomas Zugang zu den Heiligtümern der Pariser Szene erhoffte.

 

In der französischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist Thomas vor allem als Erzähler eine fixe Größe. Die Surrealisten um André Breton kannte er, aber nur mit dem oftmals mystifizierten Außenseiter Antonin Artaud war er enger befreundet. Die literarischen Strömungen seiner Zeit gingen zwar nicht an ihm vorbei; trotz seiner Ablehnung des Nouveau Roman tauchen in seinen Büchern hin und wieder »objektivistische«, mit strengem Zeugenblick formulierte Passagen auf. Was ihn jedoch heraushebt und manchen wohl auch suspekt machte, ist die »Schrift des Geheimnisses«, die in seinen Erzählungen Spuren legt und die letzte Auflösung der darin erzählten, oft ineinander verstrickten Geschichten verhindert. Die Hauptfigur von Le parjure, (1964) dem letzten großen Roman, wird einmal als »kleiner Romantiker« bezeichnet. Dieses Attribut trifft auch auf den Autor zu, mitsamt der in ihm schon vorweggenommenen Ablehnung, die es in unromantischer Zeit erwarten lässt. Das Vorgebirge spielt auf der rauen, zwar schönen, aber ganz und gar nicht idyllischen, im Winter ziemlich kalten Insel Korsika. Der Schauplatz hat, wie das meiste, was Thomas schrieb, autobiografische Hintergründe.

 

In einer Aufzeichnung aus den USA, wo er französische Literatur unterrichtete, heißt es am 29. Juni 1959: »Ich weiß nicht. Habe ich je gewusst? Habe ich mich außerhalb der Zeiten, in denen ich, von den Worten ergriffen, schrieb und mich der Bewegung der Sprache überließ, je in irgendeiner Hinsicht sicher gefühlt?« Thomas, aus den Vogesen stammend, fühlte sich zu den Inseln hingezogen. Korsika kannte er aus eigener Erfahrung, und die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er überwiegend auf einer kleinen Insel vor der Bretagne. Inseln erscheinen, im Vorgebirge ebenso wie im Parjure, als mystische, aber auch bedrohliche Entitäten, wo in bestimmten Momenten ein sonst verborgener Seinsgrund durch den Lebensalltag schimmern kann.

 

Ein großer Teil von Das Vorgebirge besteht aus Dorfgeschichten und Dorfgerüchten, die der Erzähler vom Hörensagen kennt und in seinen Aufzeichnungen wiedergibt. Viele Bücher von Thomas haben diesen Aufzeichnungscharakter, der es mit sich bringt, dass der Schreibvorgang im Text mit abgebildet wird und das einmal Notierte immer wieder infrage gestellt wird oder in einem anderen Licht erscheint. Unsicherheit gehört nicht nur zur Thomasschen Befindlichkeit, sie ist ein Antrieb des Schreibens, hin zu einem Wissen, das sich letzten Endes dem Zugriff entzieht (aber auf dem Weg dahin stellt sich ein anderes, bescheideneres, vorläufiges Wissen ein).

 

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Dieses Konzept musste auf Celan anziehend wirken; es deckte sich teilweise mit seinem eigenen. Im Fall des Vorgebirges kommt eine Thematik hinzu, die den dunkel-orpheischen Sänger der Abwesenheit besonders berühren musste. Thomas’ Roman kreist nämlich um den nicht restlos aufzuklärenden Tod – Mord? Selbstmord? – eines erblindenden Mädchens, der zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen schon einige Jahre zurückliegt. Eine rätselhafte, mit schneidender Klarheit erzählte Schlüsselszene zeigt den Icherzähler beim Schaufeln des Grabes einer Verwandten des Mädchens. Der Erzähler kommentiert die Szene: »Der Schmutz hier, der Kot, den ich mitgeschleppt habe, mit dem ich beladen bin! Ich habe keine Zeit zum Saubermachen, ich haue drauf los, ich schaufle und schaufle, immer noch, jawohl.«

 

So lautet die Übersetzung Celans, und Barbara Wiedemann macht in ihrem Nachwort darauf aufmerksam, dass Celan hier ein Wort hinzugefügt hat: das strenge, quasi militärische »Jawohl«. Hinzufügung, ja; der Übersetzer ist hier wortreicher als der Verfasser des Originals, wiewohl ein Vergleich zuallererst zeigt, dass Celan nicht nur Inhalte, sondern auch – und in diesem Fall besonders – Rhythmen und Klänge übersetzt hat. Auch im Original steht nämlich eine Art Apposition, eine Hinzufügung, das zweite »Ich« (moi) neben dem je der ersten Person; eine Verdoppelung, die sich im Deutschen so nicht wiedergeben lässt. Man sieht, dass Celan an dieser heiklen Stelle der Erzählung von seiner eigenen Arbeit gleichsam übermannt wurde und seine Übersetzung aus dem Ruder zu laufen drohte. Celan brach sie ab, der Text blieb Fragment und seinerzeit unveröffentlicht. Barbara Wiedemann hat nun sehr behutsam und eher im Geiste Celans als Thomas’ die restlichen Seiten übersetzt und das Ganze mit einem kundigen Nachwort, textkritischen Anmerkungen sowie Fotografien des Übersetzungsmanuskripts versehen.

TEIL 2

Das Verb »schaufeln« ist in Celans Dichtung poetisch geladen; es kommt unter anderem in der Todesfuge vor: »Wir trinken und trinken / wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng«. Wiedemann erinnert daran, dass Celan selbst im rumänischen Arbeitslager 1943/44 »schaufeln und schaufeln« musste. Die Wiederholung in der Übersetzung des Vorgebirges kann als eine Art Formzitat an Gedichte wie die Todesfuge erinnern. Ein noch engerer Zusammenhang erweist sich aber, wenn man den zu Beginn des Jahres 1961 entstandenen Psalm wiederliest und auf den Satz stößt: »Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm«. Das Graben und Begraben verwandelt sich in einen Schöpfungsakt, den das Leben verweigert und allenfalls die Dichtung vollziehen kann. Ein Existieren in der Nichtexistenz erfährt auch der Icherzähler des Vorgebirges. Der einzige in Großbuchstaben geschriebene, später dann mehrmals wiederholte Satz lautet: NOUS N’EXISTONS PAS, es gibt uns nicht (oder eben: wir existieren nicht). Celan hat seine Übersetzungsarbeit wenige Seiten vor diesem Satz abgebrochen, so als wäre ihm die Nähe zu seinem eigenen Schreiben mit einem Mal zu groß geworden. Er stand zu diesem Zeitpunkt, Ende 1961, immer noch unter dem Schock der sogenannten Goll-Affäre. (Claire Goll, die Witwe des Schriftstellers Ivan Goll, hatte Celan vorgeworfen, er habe die Werke ihres Mannes plagiiert.)

 

Plagiatsvorwürfe an Dichter sind an sich unsinnig. Gedichte können gut oder schlecht sein, aber nicht abgekupfert. Anders herum betrachtet: Die meisten Dichter arbeiten mit vorgefundenem Sprachmaterial, sei es aus dem Leben, sei es aus der Dichtung. Nicht wenige sind auch Übersetzer. Dass sich die eigenen poetischen Schleusen, wenn es so etwas gibt, beim Übersetzen öffnen, ist nicht verwunderlich. Bei Celan war dieser Austauschprozess, besonders in den Mandelstam-Übersetzungen, besonders intensiv.

 

Auch zu Henri Thomas scheint sich diese brüderliche Nähe ergeben zu haben. Nach der Goll-Affäre dürfte Celan aber so verunsichert gewesen sein, dass er die Kartoffel fallen ließ, als sie ihm zu heiß wurde. Über das Tempo, mit dem Celan im Dezember 1961 Seite um Seite übersetzte, als müsste er den Text verschlingen, kann man nur staunen. Das nun mitsamt Ergänzung herausgegebene Fragment zeigt viele Spuren eines ersten Wurfs; die tastende, recht nervöse Suche nach dem richtigen Ton ist zu Beginn deutlich nachzuvollziehen. Der Leser kommt daher nicht in den Genuss eines glatten Produkts, er wird für diesen Mangel aber reich entschädigt durch die Dokumentation eines höchst aufschlussreichen Scheiterns, das eine hervorragende Einführung in die Welt des französischen Autors Henri Thomas zu bieten vermag.

 

Nachdem Celan dem Hanser Verlag, der die Übersetzungsrechte erworben hatte, im Februar 1962 endgültig abgesagt hatte, wurde Elmar Tophoven, damals einer der besten Übersetzer, 1970 dann Nachfolger Celans auf der Lektorenstelle an der Pariser École Normale Supérieure, mit dieser Arbeit betraut. Das Buch erschien 1964 unter dem weder korrekten noch (wie der des Originals) wohlklingenden Titel Das Kap. Das Vorgebirge, wenn auch im Deutschen selten gebraucht, ist ein viel bezugsreicheres Wort, das die französische Bildung genau wiedergibt.

 

Trotz der mit einem halben Jahrhundert Verspätung erscheinenden Übersetzung Celans bleibt Thomas als Autor im deutschsprachigen Roman noch zu entdecken. Die in den sechziger Jahren erschienenen Bücher sind vergriffen, das meiste ist unübersetzt, darunter Le parjure, dessen Hauptfigur an Paul de Man erinnert, den amerikanischen Dekonstruktivisten mit dunkler belgischer Vergangenheit. Zu diesem Buch schrieb Jacques Derrida einen umfangreichen Kommentar, nachdem der mit ihm befreundete de Man ihm gesagt hatte, wenn er etwas über sein früheres Leben erfahren wolle, solle er Le parjure lesen. Mit seinem akrobatischen Denkstil führt Derrida vor, wie sich Lebenserfahrung und Schreibkunst unauflöslich verstricken, um die von den Gewohnheiten des Alltags überwucherten Zwischenräume zu öffnen, Zonen zwischen »Nichts und Fast-Nichts«, die Raffinement und Sensibilität erfordern, um überhaupt wahrgenommen zu werden.

 

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Das Rätsel von Korsika

 

 

Thomas Laux

 

FRANKFURTER RUNDSCHAU, **15 juillet 2008

 

Das hat gedauert. Die Bemühungen, den französischen Schriftsteller Henri Thomas (1912-1993) im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen, wirkten von Anfang an halbherzig.

 

Es begann mit zwei Romanen hintereinander, und diese verlegerische Großtat war auch nur dem Umstand geschuldet, dass diese zwei Romane - "John Perkins" (1960; dt.: 1961) und "Le Promontoire" (1961; dt.: 1963 als "Das Kap") - in Frankreich hintereinander mit namhaften Preisen geadelt worden waren, dem Prix Fémina für "Le Promontoire" und dem Prix Médicis für "John Perkins".

 

 

Danach, das heißt nach der eher kümmerlich verlaufenen Rezeption in Deutschland, scherte sich auch der federführende Verlag in München nicht mehr um das weitgefächerte Werk von Thomas. 1988 brachte der kleine, seit langem verschwundene Verlag S. Boettcher dann immerhin einen Band mit Erzählungen Thomas' heraus ("Die Türme von Notre Dame"), und 1999 traute sich gar der große S. Fischer Verlag aus der Reserve mit "Das Kino in der Scheune", einer Novelle, die, wohl um das finanzielle Risiko klein zu halten, gleich im Taschenbuch erschien - verlegerischer Mut sieht anders aus.

 

Man muss sich dabei das exorbitante Werk von Thomas vor Augen halten, das 21 Romane, zahlreiche Erzähl- und Gedichtbände sowie diverse Essaybände, Tagebücher und Autobiographisches umfasst. Überdies war Henri Thomas als eine Art kosmopolitischer Übersetzer tätig. Aus seinem Portfolio stechen Shakespeare, Melville und Faulkner hervor; desweiteren Puschkin, Tolstoi; Goethe, Stifter, Hölderlin, Brentano, Kleist, Ernst Jünger. Dass gerade Jünger in Frankreich weit vorbehaltloser rezeptiert wurde als in Deutschland, wird als ein Kuriosum erachtet, das auf die spezifisch thomassche Übersetzung zurückzuführen sei. Die Publizistin und Übersetzerin Nicole Casanova meinte zur positiven Rezeption Jüngers in Frankreich einmal: "C'est la faute d'Henri Thomas" - Henri Thomas sei daran schuld.

 

Henri Thomas schreibt in der Tat recht eigenwillige Romane, damit tritt man ihm nicht zu nahe. Handlung, Plot, Dramaturgie sind für ihn eher zweitrangig, es geht ihm vielmehr um Atmosphäre, Mystifikationen, Verrätselungen, überhaupt um Hintergründiges. Der Roman "Das Vorgebirge" ist insofern ein ganz typisches Werk des Franzosen.

 

Es ist Winter, wir befinden uns auf Korsika. Der namenlose Ich-Erzähler, der sich beruflich als Freizeit-Übersetzer eines englischen Katalogs pharmazeutischer Artikel zu erkennen gibt, verbringt zusammen mit Frau und Tochter eine Zeit auf der Mittelmeerinsel. Ebenfalls auf der Insel befindet sich der Schriftsteller Gilbert Delorme, der selbst nicht in Erscheinung tritt, sondern vor allem in den Schilderungen des Erzählers auflebt. Allzu gerne schweift der Erzähler gedanklich ab, ihm gerät einiges durcheinander, das fällt auf, und man weiß auch nicht genau, was es ist, ob es etwa schlicht an seiner narrativen Unbedarftheit liegt, denn schließlich räumt er gleich zu Beginn ein, nur bescheiden-dilettantisch eine Art Tagebuch zu führen.

 

Nun stirbt eines Nachts die Wirtin des "Caliste", einer benachbarten Pension, und dieser "fait divers" ist schon so etwas wie ein Event im Dorf. Die blind gewordene Schwester der Wirtin, so wird desweiteren berichtet, hatte sich fünf Jahre zuvor umgebracht. Gerüchteweise wird auch kolportiert, ein gewisser Rollaer, seines Zeichens urlaubender Apotheker aus Anvers, habe ihr bei ihrem Selbstmord beigestanden oder die Frau sogar mit eigener Hand getötet. Aufgeklärt wird das nicht. Am Ende kommt im übrigen noch die Frau des Erzählers, Solange, bei einem Badeunfall ums Leben, und das passiert exakt an der Stelle, an der auch die blinde Wirtinnenschwester umgekommen war. Voilà, soviel zu den verhandelten "Fakten", die in diesem Roman zur Sprache kommen, dazwischen ist allerdings reichlich Luft für die mäandernden Gedankengänge unseres denkwürdigen Chronisten.

 

Klingt also erst einmal nicht nach viel. Wie bei einem Puzzle hat man lange Zeit über den Eindruck, dass sich bis zur endgültigen Auflösung alles nur irgendwie fügen muss - doch ein letztes, kohärentes Bild ergibt sich nicht. Der Roman, die ganze Geschichte, ist wie eine kriminologische Untersuchung angelegt, mit allerlei Verdächtigungen, Indizien und eingeräumten Relativierungen. Bezeichnend ist da ein Satz, der Gilbert Delorme in den Mund gelegt wird: "Ein Geheimnis ist ans Licht gebracht, aber ein anderes ist an seine Stelle getreten."

 

Die Recherchen des Erzählers indessen bleiben auch in einem Schwebezustand der Mutmaßung - womit man nun aber zum eigentlichen Punkt gelangt: seine Aufzeichnungen bleiben vage, uneindeutig, bekommen aber zugleich einen feinen poetologischen Hintersinn, da der Leser zum Zeugen des Romans in statu nascendi und zugleich zum Hermeneuten wird; die Selbstzweifel des Erzählers sind die Zweifel des Romans mit Mitteln der Poesie. Wer sich auf das Werk Henri Thomas' einlässt, sollte eine Portion originärer Neugierde mitbringen und sich von derartigen Verunsicherungen nicht aus der Ruhe bringen lassen.

 

Nun war es kein Geringerer als Paul Celan, der anfangs die deutsche Übersetzung dieses Romans besorgen sollte - beide Männer kannten sich aus den Verlagsräumen bei Gallimard. Celan überwarf sich aber mit dem deutschen Verlag (Hanser) wegen einer Vertragsklausel, welche besagte, dass, - wie bei Standardübersetzungen allerdings durchaus üblich -, ein Dritter gegebenenfalls eingreifen, die Übersetzung durchsehen und korrigieren durfte. Celan stand da noch unter dem Trauma der Goll-Affäre - Barbara Wiedemann geht in ihrem Nachwort ausführlich darauf ein -, bei der es um schlimme Plagiatsvorwürfe ging. Da der Hanser-Verlag von der Vertragsklausel nicht abließ, warf Celan, obschon er bereits gut drei Viertel des Textes übersetzt hatte, gleich alles hin, und der deutsche Verlag musste sich nach einem anderen Übersetzer umsehen.

Die Sache übernahm Elmar Tophoven, seine Fassung erschien 1963. In einem Gespräch, das ich 1988 mit Henri Thomas führen konnte, betonte er allerdings, dass er Paul Celans Übersetzung in jedem Falle vorgezogen hätte, Tophovens Fassung erschien ihm seinerzeit "sans cœur", ohne Herzblut, zu sein.

 

Sieht man sich beide Fassungen etwas genauer an, so fallen vor allem Stilunterschiede ins Gewicht. Celan zeigt sich - fast erwartet man es - feinsinniger, stellenweise auch schon zu sublim, etwa wenn es heißt: "Trachten Sie da zu sein um zwei Uhr" (und das aus dem Munde eines Dorfbewohners), wohingegen Tophoven, um bei diesem Beispiel zu bleiben, schlicht "Versuchen Sie, um zwei Uhr da zu sein" übersetzt; typisch freilich auch, dass es bei Celan an Mut "gebricht" und bei Tophoven dieser bloß "fehlt".

 

Andererseits wirkt Tophoven im Umgangston auf heutige Ohren phasenweise antiquierter, was dem überholten Zeitgeist der frühen sechziger Jahre geschuldet sein dürfte. Deutlich aber "klebt" Celan weit weniger am Original als Tophoven, erlaubt sich ab und zu Freiheiten und lässt bei Verdacht auf Redundanz sogar mal einen halben Satz weg - dies, so darf man unterstellen, hätte sich kein anderer Übersetzer getraut.

 

Barbara Wiedemann, die als Herausgeberin auch die letzten (fehlenden) Seiten der Celan-Fassung übersetzte, darf man attestieren, dass sie es im Geiste Celans tat, eine kritischere Würdigung verbietet sich indes aufgrund der Kürze des von ihr übersetzten Teils.

 

Mittlerweile, wenn auch reichlich spät, ist die akademische Welt also aufgewacht, es gibt Symposien und Kolloquien zu Henri Thomas sowie eine ganze Reihe von Publikationen. Und selbstredend gibt es heute eine Internetseite zu dem Dichter, wo jeder Interessierte sich ein näheres Bild über den Stand der Forschung machen kann; sie ist allerdings überwiegend auf französisch: http://henrithomas.pbwiki.com/.

 

Henri Thomas: Das Vorgebirge. Aus dem Französischen von Paul Celan. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag 2008, 128 S., 12,80 Euro.

Die Sache übernahm Elmar Tophoven, seine Fassung erschien 1963. In einem Gespräch, das ich 1988 mit Henri Thomas führen konnte, betonte er allerdings, dass er Paul Celans Übersetzung in jedem Falle vorgezogen hätte, Tophovens Fassung erschien ihm seinerzeit "sans cœur", ohne Herzblut, zu sein.

 

Sieht man sich beide Fassungen etwas genauer an, so fallen vor allem Stilunterschiede ins Gewicht. Celan zeigt sich - fast erwartet man es - feinsinniger, stellenweise auch schon zu sublim, etwa wenn es heißt: "Trachten Sie da zu sein um zwei Uhr" (und das aus dem Munde eines Dorfbewohners), wohingegen Tophoven, um bei diesem Beispiel zu bleiben, schlicht "Versuchen Sie, um zwei Uhr da zu sein" übersetzt; typisch freilich auch, dass es bei Celan an Mut "gebricht" und bei Tophoven dieser bloß "fehlt".

 

Andererseits wirkt Tophoven im Umgangston auf heutige Ohren phasenweise antiquierter, was dem überholten Zeitgeist der frühen sechziger Jahre geschuldet sein dürfte. Deutlich aber "klebt" Celan weit weniger am Original als Tophoven, erlaubt sich ab und zu Freiheiten und lässt bei Verdacht auf Redundanz sogar mal einen halben Satz weg - dies, so darf man unterstellen, hätte sich kein anderer Übersetzer getraut.

 

Barbara Wiedemann, die als Herausgeberin auch die letzten (fehlenden) Seiten der Celan-Fassung übersetzte, darf man attestieren, dass sie es im Geiste Celans tat, eine kritischere Würdigung verbietet sich indes aufgrund der Kürze des von ihr übersetzten Teils.

 

Mittlerweile, wenn auch reichlich spät, ist die akademische Welt also aufgewacht, es gibt Symposien und Kolloquien zu Henri Thomas sowie eine ganze Reihe von Publikationen. Und selbstredend gibt es heute eine Internetseite zu dem Dichter, wo jeder Interessierte sich ein näheres Bild über den Stand der Forschung machen kann; sie ist allerdings überwiegend auf französisch: http://henrithomas.pbwiki.com/.

 

Henri Thomas: Das Vorgebirge. Aus dem Französischen von Paul Celan. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag 2008, 128 S., 12,80 Euro.

 

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